Im roten Kreis: Citroen. Ferrari. Facel Vega.
(Und BMW)
    
Alle Zufälle zu erzählen, deren ich im Juni gewahr wurde, ist unmöglich. Warum, fragt sich der Leser? Wegen der besonderen Eigenschaft der Zufälle, miteinander zu koinzidieren, antworte ich. Dadurch vermehren sich die Zufälle, schon durch bloße Betrachtung. Würden alle erzählt, ergäbe sich eine Situation, nicht unähnlich einer atomaren Kernreaktion. Um eine vollständige Erzählung aller Zufälle im Juni 2002 zu ermöglichen, müsste ich also Gewalt und List anwenden, um damit die Zeit anzuhalten. Das will ich nicht.
Mir reicht die volle Aufmerksamkeit des Lesers für die folgenden vier Geschichten. Zwei habe ich im Juni selbst erlebt. Die dritte Geschichte hat ein aufmerksamer Leser der "Neuen Zürcher Zeitung" beigesteuert. Und die vierte Notiz, im PS, stammt aus einem Artikel von Marianne Fehr, die für die Zürcher Weltwoche Ende Juni über Autos schrieb, die zu kriminellen Zwecken gebraucht werden.
Citroen in der niederösterreichischen Kleinstadt Neunkirchen. 2. Juni 2002: Es ist ein schöner Frühlingstag. Auf dem Weg von Wien nach Neunkirchen verlasse ich bei Wiener Neustadt die Autobahn und fahre über Weikersdorf und Mollram nach Neunkirchen. Ich fahre sehr langsam, genieße die Landschaft und den Tag. Kurz vor Mittag komme ich so nach Neunkirchen. Gleich nach der Ortseinfahrt ist ein großes Plakat. Auf dem ist ein blauer Citroen C3. Und zwei gelbe Goldfische, die sich küssen. Gleich nach dem Plakat stehen zwei rote Citroen 2 CV. Direkt nebeneinander. Hintern an Hintern. Ich steige aus. Ich fotografiere das Plakat mit dem Citroen und den beiden Goldfischen. Ich fotografiere die beiden roten Enten. Und dann fotografiere ich auch noch ein kleines grünes Plakat, das ich neben den beiden Citroens entdecke: Auf dem steht, dass man in Neunkirchen am 14. Juni 2002 ein Wochenende mit einem Ferrari gewinnen kann. Zufällig ist der 2. Juni der sechste Jahrestag des ersten Ferrari-Sieges von Michael Schumacher.
Ferrari in Wien. Parkring, 14. Juni 2002: Es ist ein schöner Frühlingstag. Auf dem Weg von Wien nach Neunkirchen parke ich kurz am Parkring um mir im British Bookshop ein Buch zu besorgen, das mir von einer am Stadtpark arbeitenden Freundin empfohlen wurde. Ich gehe beim Ferrarischauraum vorbei. Eine Fensterfläche steht offen. Ein Fotograf mit Assistentin arbeitet im Schauraum. Die Kamera des Fotografen steht auf einem sehr niedrigen Stativ und ist auf das silberne springende Pferd am Heck eines roten Ferrari Maranello gerichtet. Ich frage den Fotografen durch das große, offene Fenster, ob er mir erlaubt, ihn bei seiner Arbeit zu fotografieren. Der Fotograf sagt: "Nein". Ob er mich für pervers hält? Oder ob er fürchtet, ich würde ihn zum Zwecke der Beweisführung in Sachen Sodomie ablichten wollen? Wer weiß.
Am 26. Juni 2002 erscheint das Juli-Heft der autorevue. Es steht ganz im Zeichen vor springenden Pferde. Titelbild: Ein roter Maranello. Schlagzeile: Das Jahr der Roten. Ferrari. Im Heft: 14 Seiten Ferrari. Ein Bild des springenden Pferd auf rotem Grund, das wohl am 14. Juni aufgenommen wurde, nimmt eine Doppelseite ein. Schumachers Erfolge in der Formel 1 strahlen im Jahr 2002 so immens, dass das Licht ausreicht, um auch den gläsernen Ferraristall am Parkring zu beleuchten. So erfahre ich also, dass der Schauraum schon seit 1962, meinem Geburtsjahr, von Ferraris bewohnt wird. Und so erfahre ich auch, dass der Generalimporteur damals neben Ferrari auch BMW und Facel Vega ausstellte. Warum dies in diesem Kontext bemerkenswert scheint? Darum:
Facel Vega nahe beim französischen Ort Villeblevin, 4. Jänner 1960: Am 27. Juni 2002 druckt die NZZ auf Seite 54 unter dem Titel "Kein Selbstunfall" einen Leserbrief des Zürchers Franz Cavigelli in dem die Automarken Citroen und Facel Vega Erwähnung finden. Und jener europäische Politiker, bei dem der Zusatz "rot" fast ebenso selbstverständlich ist wie bei der Automarke Ferrari, Daniel Cohn Bendit:
"Dass anlässlich der Besprechung des 100. "Literaturclubs" des Fernsehens DRS der Rezensent Daniel Cohn-Bendits Aussage zum Unfalltod des Albert Camus als "aufschlussreichste Bemerkung der Sendung" bezeichnet (NZZ 6.6.02), kann man so oder so deuten. In jedem Fall ist die zitierte Aussage falsch. Weder verunglückte Camus "in seinem wunderbaren Citroen DS 19" noch ist er "zu schnell gefahren": Albert Camus fand den Tod im Facel-Véga (immerhin ein Auto, das es ebenfalls "heute nicht mehr gibt") seines Verlegers Gallimard, der beim Unfall auch am Steuer sass."
Man sieht, finde ich, an diesem Leserbrief sehr schön, wie sich im Laufe der Jahre die menschliche Erinnerung verklärt. Man sieht aber auch, finde ich, dass der Zufall potentiell auch über Jahrzehnte hinweg eine genaue Information darüber zu liefern imstande ist, in welchem Universum wir uns befinden.
Damit schliesst sich dieser Reigen: Anfang Juni leitet ein kleiner Zufall mit Citroen scheinbar über zu einem kleinen Zufall mit Ferrari, der Mitte Juni stattfindet. Und Ende Juni treffen sich dann die drei Marken, Citroen, Ferrari und Facel Vega wieder. Wie bei Jean Pierre Melville: In einem roten Kreis.
Wien, 29.6.2002
PS:
In Melvilles "Rotem Kreis", einem Film über Gangster, die scheitern, finden im Finale allerdings vier Personen zusammen. So wie auch das Emblem von BMW, die ja neben Facel Vega und Ferrari auch am Parkring ausgestellt wurden, vier Felder hat.
Also noch ein Wort zu BMW.
In der Zürcher Weltwoche war Ende Juni 2002 zu lesen, dass BMW wegen seiner Beliebtheit bei der RAF (Rote! Arme Fraktion), die bevorzugt das Modell 2002 (!) kurzgeschlossen hat, im Ausland auch als "Bader-Meinhof-Wagen" bekannt war.
Dies in einem Artikel über Autos, die zu kriminellen Zwecken eingesetzt wurden. Ich erwähne dazu ein Auto, das in dem Artikel der Weltwoche fehlte: Citroen Traction Avant. Der wegen Frontantrieb überlegene Straßenlage hatte und darum bei Gangstern enorm beliebt war. Und glaube, diese Notiz passt auch ganz gut ans Ende dieser Geschichte.